Nachtmahr : Seltsame Geschichten by Hanns Heinz Ewers

Nachtmahr : Seltsame Geschichten by Hanns Heinz Ewers

Autor:Hanns Heinz Ewers [Ewers, Hanns Heinz]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Erzählungen
Herausgeber: Georg Müller
veröffentlicht: 1922-01-01T00:00:00+00:00


Die Typhusmarie

Hier im Herzen ist der Raum, darin liegt er, der Herr der Welten; er wird nicht höher durch gute, nicht geringer durch böse Werke.

Brihadâranyaka-Upanishad 4, 4, 22.

Der kleine Saal war nur matt erleuchtet. Die Fenster waren verhangen, die Tische zusammengestellt und mit grünem Tuch überdeckt, so daß es aussah wie ein großer Tisch. Dahinter saßen die sechs: Erwin Erhardt, Siegfried Löwenstein, Graf Thassilo Thun, Walter von Ayx, Hans dell’ Greco und Randolph Ulbing. Ein siebenter Sessel war leer.

Vor dem grünen Tisch, fast mitten im Raum, stand ein großer Ledersessel, daneben ein kleines Tischchen. Ein Aschenbecher darauf, eine Zündholzdose, eine Zigarettenschachtel. Sonst unterschied man wenig in dem Saal.

Die sechs warteten. Sie sprachen kaum. Über die Bucht herüber drangen vom Hotel Carmen her zerrissene Jazzklänge.

Siegfried Löwenstein war Rechtsanwalt. Vierziger. Jude – aber mehr noch: Rheinländer. Frontoffizier durch vier Jahre. Pour le mérite – er!

Ritter Hans dell’ Greco war Triestiner. Schiffsleutnant der weiland österreichischen Marine. Jetzt mußte Rom ihm seine Pension zahlen, und er versuchte, seine Güter im Görzischen wieder hochzubringen, die ihm die Italiener zerschossen hatten.

Thassilo Thun war böhmischer Graf. Von der Nebenlinie. Fünfziger. Seine wasserblauen Augen zwinkerten und seine Lippen zuckten.

Dr. ing. Erwin Erhardt war ein Industrieller vom Rhein. Ingenieur und Erfinder. Sehr reich, sehr elegant und gepflegt. Dunkel, schlank.

Randolph Ulbing war klein und rund. Weißblond – seine Hände sahen aus wie Metzgerhände mit manikürten Nägeln. Er war der Chef des Hauses Ulbing in Hamburg und Neuyork. Amerikanischer Bürger – so waren seine Millionen in Sicherheit.

Freiherr Walter von Ayx war Maler, wohnte in München. Er war eisgrau, obwohl er noch nicht dreißig alt war.

Die sechs warteten. Rauchten. Tranken. Sprachen nicht.

Dann öffnete sich die Tür. Colonel Lionel Thursby trat ein. Er trug kleine Narben auf der linken Wange von seiner Göttinger Studentenzeit – und eine große, rote mitten über der Stirn: die kam aus Flandern. Seine schwarzen Augen leuchteten.

»Sie kommt!« sagte er.

Eine Dame trat ein. Groß und schlank. Der Oberst schloß die Tür hinter ihr und zog den Schlüssel ab. Dann zeigte er wortlos auf den großen Sessel in der Mitte. Begab sich hinter den Tisch, legte den Schlüssel vor den Rechtsanwalt, der in der Mitte saß und setzte sich auf den letzten der Stühle, beim Fenster.

Die große Frau setzte sich nicht. »Warum verschließen Sie die Tür?« rief sie. »Soll ich gewaltsam hier festgehalten werden?«

Dr. Löwenstein nickte: »Es scheint so.«

Die Frau machte einen Schritt vorwärts. »Dies sieht aus wie ein Tribunal. Wollen Sie vielleicht über mich zu Gericht sitzen?«

Und wieder nickte der Rechtsanwalt: »Es scheint so.«

Da lachte sie hell auf. »Bitte,« sagte sie, »ganz nach Ihrem Belieben.« Sie setzte sich auf den Sessel, schlug die Beine übereinander und brannte eine Zigarette an. »Also bitte, meine Herren, ich bin neugierig.«

Der Rechtsanwalt starrte zu ihr hinüber. Seit acht Jahren hatte er diese Frau nicht gesehn – und sie war genau dieselbe, die sie damals war. Nicht ein bißchen schien sie gealtert. Sie wippte die schmalen Füße, die in spitzen, grauen Schuhen staken. Grau wie die Seidenstrümpfe war ihr Chameusekleid. Sie trug einen alten



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